Theorie und Praxis

Der Unterschied zwischen Theorie und Praxis
ist in der Praxis größer als in der Theorie.

nach Ernst Feistel

Vielleicht kennen Sie den Spruch.

In der Theorie sollten ursprünglich einmal alle politischen und wirtschaftlichen Ideen und Systeme gut funktionieren. Angefangen vielleicht beim Reich der Inka über das Römische Reich, das alte Ägypten, die Kolonialisierung Afrikas und Südamerikas, der Kommunismus in China und der Sowjetunion über den Sozialismus in der DDR oder Kuba bis hin zur Demokratie. Und all unsere globalen marktwirtschaftlichen Konzepte, unser Währungs- und Finanzsystem und auch die fabelhafte Grundidee der Vereinten Nationen und der Europäischen Union sollten nach den Vorstellungen ihrer Erdenker, Erfinder und Machthaber eigentlich gut funktionieren.

Eigentlich.

In der Umsetzung hat sich aber vielfach gezeigt, dass die Theorie zwar schön und gut ist, in der Realität dann aber noch andere Aspekte, Umstände und vor allem der »menschliche Faktor« hinzukamen: Auf längere Sicht stellte sich das Ganze dann doch anders dar. Auch bei unseren aktuellen politischen und wirtschaftlichen Konzepten erkennen wir immer häufiger und deutlicher die Schwachstellen, wo unser Handeln und Wirtschaften (un)erwartete und unerwünschte Auswirkungen zeigen. Durch alle Irrungen der Vergangenheit haben wir uns dennoch immer weiterentwickelt, sind schlauer und vereinzelt auch weiser geworden.

Aber jetzt fehlt uns der nächste große Wurf.

Die Frage ist deshalb: Können wir das, was wir auf unserem herrlichen Planeten heute tun, nicht doch besser? Also: theoretisch, am Ende gar praktisch. Wie finden wir den Weg, als globale Gemeinschaft – endlich – in mehr Frieden, in gegenseitigem Respekt, verständnisvoller, gesünder, glücklicher und gemeinsam wirtschaftlich erfolgreich miteinander zu leben? Und das dann in einer auch wieder intakteren Umwelt? Wobei wir »wirtschaftlich erfolgreich« auch mal neu definieren sollten: Was meinen wir eigentlich damit – wenn wir unseren Planeten als Ganzes betrachten – wirtschaftlich, nüchtern, als Unternehmer?

Nicht nur die Medien vermitteln uns den Eindruck, dass nationales Eigeninteresse wieder verstärkt vor globalem Gemeinwohl rangiert und wir uns auf vielen Gebieten zunehmend wieder von der Kooperation verabschieden und zur Konfrontation zurückkehren. Doch wer ist hier eigentlich mit »wir« gemeint? Die Akteure auf dem internationalen Wirtschafts- und Politparkett sollten mehr kooperieren als sich abgrenzen, keine Frage, aber wir anderen bald acht Milliarden Menschen und Bürger – kommen wir uns über alle Grenzen hinweg, trotz kultureller, sprachlicher und religiöser Verschiedenheit nicht immer näher? Werden wir unausgesprochen nicht immer einiger in dem, was wir eigentlich wirklich wollen? (Oder zumindest in dem, was wir nicht mehr wollen?)

Zugegeben, an einer gemeinsamen Vision zu arbeiten gelingt schon kaum in einer Partnerschaft, ist noch schwieriger in einer Firma, einem Verein oder einer Organisation – wie kann es dann gelingen, dass wir uns als Weltgemeinschaft auf eine gemeinsame Vision verständigen? Wir scheitern doch bereits beim gemeinsamen Streben nach Frieden und Nahrung für alle, und reden weiter vom »Kampf« gegen Terror oder Hunger. Und da sitzen meist nur (G)7 oder (G)20 Partner an einem Tisch …

Eine gemeinsame Vision, aus der sich auch noch eine gemeinsame, für uns alle akzeptable und umsetzbare Mission ableiten ließe, müsste klar und einfach sein, griffig, in jede Kultur und Sprache übersetzbar und bildhaft vorstellbar – und im besten Fall auch von allen Religionen mitgetragen werden können.

Utopie? Größenwahn? Phantasterei? Nun, »die Phantasten von heute werden die Realisten von morgen sein, weil sie sich heute vorstellen können, wie die Welt morgen aussehen kann; und die Realisten von heute werden die Phantasten von morgen sein, weil sie glauben, dass sich die Welt nicht ändern wird.« Diesen Satz gab mir mein erster Chef Rudolf Schreiber bereits 1985 mit auf den Weg.

Ich möchte Ihnen in diesem Buch meine Gedanken und Ideen für eine gemeinsame Vision (und Mission) darlegen und den Vorschlag machen, an der nächsten Weggabelung einmal gemeinsam abzubiegen. Es ist ein gedankliches Konzept, als greifbares Bild, dem eine einfache Idee zugrunde liegt. Diese liefert, wie ich finde, einen konkreten Ansatz für eine Neuausrichtung im Kopf und für Veränderung im Handeln. Und sie gibt allen schon bestehenden Aktivitäten, Bewegungen und Konzepten Rahmen und Raum, sich darin zu entfalten und miteinander zu verbinden. Ich sehe das nicht als Gegenmodell zu vielen guten bereits umgesetzten Ideen, sondern vielmehr als ein großes Dach, unter dem wir uns alle zusammenfinden können, wenn die Grundidee überzeugt und den Weg in unsere Herzen und Köpfe findet.

Es geht mir dabei nicht um richtig oder falsch oder um das einzig Wahre. Es wurden bereits so viele kluge Bücher geschrieben, die aber leider zu oft im Regal verstauben. Außer einer Menge an Erkenntnissen und Meinungen, an Mahnungen und Forderungen nehme ich als Leser wenig aus diesen Büchern mit, und ich vermisse zumeist praktische Ansätze für Veränderungen. Mal ganz abgesehen davon, dass die meisten als Fachbücher nur einen eingeschränkten Blickwinkel haben und einen begrenzten Themenkomplex behandeln und für den einfachen Menschen von der Straße intellektuell oft unverdaulich sind (ich zähle mich durchaus auch dazu). Sie alle sind nicht für ihn geschrieben, obgleich er (also wir, und Sie und ich) der Souverän sind.

Eine der wenigen Ausnahmen sind aktuell für mich die Gedanken von Christian Felber und sein offenes Konzept der Gemeinwohl-Ökonomie. Es findet durch eine wachsende Zahl von Initiativen, Mitstreitern und Unternehmen in vielen Ländern bereits praktische Umsetzung und lebendige Weiterentwicklung. Seine Bücher zu lesen lege ich Ihnen ans Herz. Und Mitglied der Bewegung zu werden auch. Als Privatperson wie auch als Unternehmer.

Vielen meiner Gedanken und Ideen haftet natürlich auch das Theoretische an. Manche meiner Sichtweisen werden Sie überraschen oder vor den Kopf stoßen, andere werden Sie vermutlich für abwegig oder naiv halten. Mir geht es hier zunächst um die Grundidee an sich. Denn: Anders als beim Eingangszitat oben ist bei meinen Überlegungen der Unterschied zwischen Theorie und Praxis in der Praxis oft überraschend kleiner als in der Theorie. Und unsere Realität nicht selten schon näher an meiner Theorie und Vision, als man im ersten Moment vermuten mag.

Beginnen wir also mit ein paar Fragen zur Einstimmung …